Gute Tat

All die Jahre war P., wenn er zu seiner Arbeit in die große Schreibfabrik ging, achtlos an ihnen vorbeigegangen, den kleinen windschiefen Hütten der Hoch- und Schwerliteraten, aus denen es nach Kunst und Bratkartoffeln roch. Er selbst hatte es geschafft, er hockte nun im dritten Stock des weitläufigen Gebäudes, dort, wo flinke Finger Liebesromane und Agententhriller handwerkelten, Bücher, die »Doktor Sommers letzter Herbst« oder »Blaue Bohnen zum Rotkraut« hießen. Irgendwann einmal würde es P. eine Etage höher schaffen, dorthin, wo die Produzenten von Softpornos saßen, wahre Meister des einhändigen Schreibens, die für dieses Vergnügen auch noch bezahlt wurden.
Nein, er machte sich keine Gedanken um das literarische Lumpenproletariat, all diese Verblendeten, die noch glaubten, Lesen sei grundsätzlich anders als »Chillen« oder »Mit Peggy Eis essen gehen«. Auch er war als Dichter ins Leben gesprungen und als Schreiberling gelandet, aber besser einen Job mit Zusatzrentenversicherung und Jahresurlaub als ein Leben in einer dieser elenden Hütten, vor denen zerlumpte Kinder ihre schmutzigen Hände ausstreckten und um Almosen baten. Manchmal ließ er sich erweichen und gab ihnen etwas. »Damit sich dein Papa ein neues Farbband kaufen kann.«


Acht Stunden täglich schrieb er also in einem Großraumbüro. Machte es ihm Freude? Nein, es war Arbeit und durfte keine Freude machen. An verregneten Wochenenden schrieb er sogar zu Hause unter Pseudonym, hübsche, ein wenig gegen den Strom schwimmende Geschichten, die er dann als Selfpublisher bei Amazon hochlud und die sich sogar gut verkauften. So hätte es weitergehen können – doch dann kam Kindle Unlimited.
Oh, wie hatte es ihn erfreut! Jeden Tag schaute er nach, wie viele Seiten seine Kundschaft gelesen hatte. 20.000! 30.000! 50.000! Es waren so mächtige Zahlen, dass ihm schwindlig wurde. Wie schaffte Amazon es nur, herauszufinden, wer wie viel gelesen hatte? Ganz einfach: Sie schauten nach. War der Leser am Dienstagabend auf Seite 30 und am Mittwochmorgen auf Seite 130, dann wurden ihm, dem Autor, 100 Seiten gutgeschrieben. Man musste die Seiten nicht gelesen haben, es genügte, sie schnell umzublättern. Einmal, als es draußen sehr regnete, dachte er für sich: Wenn ich jetzt einen Link einbauen würde, der den Leser von Seite 30 auf Seite 130 katapultiert, dann würde ich ihm das Lesen ersparen und er könnte seine Zeit sinnvoller nutzen. Aber das war nur ein Gedanke, nichts weiter.
Am nächsten Morgen ging er wieder an den Elendshütten der Dichter vorbei. Vor einer, der baufälligsten, saß das kleine Mädchen mit den traurigen dunklen Augen, es weinte und Rotz lief ihm auf das zerlumpte Kleid. P. blieb stehen, beugte sich zu dem Kind.
»Na? Was ist mit dir los? Hast du Hunger?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Nein, das heißt: Hunger habe ich immer. Aber mein Vater … Sein Laptop ist kaputt und einen neuen können wir uns nicht leisten. Und er schreibt doch gerade seinen großen Roman! Er will damit den Nobelpreis gewinnen – aber jetzt ist alles vorbei!« Es schluchzte und sank erschöpft zu Boden.
Später wusste P. nicht mehr, was in diesem Moment in ihn gefahren war. Er streichelte über das struppige Haar des Mädchens und sagte: »Sag deinem Vater, er soll mir mal seinen Text schicken. Er muss nicht fertig sein. Ich werde ihn veröffentlichen und dein Vater wird sehr viel Geld damit verdienen.«
Das Mädchen glaubte dem Fremden nicht, es schüttelte den Kopf, dann aber, weil eh alles verloren war, nickte es und nahm die Visitenkarte P.s in Empfang.
Am Abend, als er wieder zu Hause war, fand er auf seinem Rechner eine Mail mit Anhang, ein Wordtext von 500 Seiten. Ohne ihn zu lesen, fügte ihn P. in eines seiner Manuskripte ein, die erotische Erzählung »Immer wenn die Hose platzte«, und zwar akkurat nach Seite 12 und vor Seite 13. Auf Seite 12 setzte er eine Sprungmarke, die über des Dichters Epos hüpfte, und auf Seite 13 landete. Dazu schrieb er: »Vorsicht, Hochliteratur! Bitte klicken, sonst nehmen Sie Schaden an Leib, Seele und Verstand!« Als er fertig war, lud er alles hoch und harrte der Dinge.
Und die Dinge kamen. Schon nach einer Woche hatten 100 Leser den literarischen Text übersprungen, weil sie es nicht erwarten konnten zu erfahren, wie der flotte Ronald von Seite 12 die verführerische Rosita auf Seite 13 aber dermaßen rannahm, dass jede Jeans jodelte und jede Wüste zum Feuchtgebiet wurde. 100 Leser = 50.000 gelesene ungelesene Seiten, knapp 200 Euro für den Dichter.
Am Ende des Monats war es eine halbe Million Seiten, und als Amazon endlich das Geld ausgezahlt hatte, brachte es P. eines Morgens dem Mädchen, das wie üblich vor der Hütte stand, drückte es ihm in die zitternde Hand und sagte: »So. Gib das deinem Vater. Seinen Text hat zwar niemand gelesen, aber ich finde es nur fair, dass man wenigstens dafür bezahlt hat. Das reicht für einen neuen Laptop – und leistet euch endlich mal eine Dusche, du stinkst erbärmlich.«
Er setzte seinen Weg fort, erreichte die Romanfabrik, fuhr mit dem Aufzug in den dritten Stock, betrat das Großraumbüro, setzte sich an seinen Platz und begann sein Tagwerk. Irgendwie fühlte er sich gut, aber er wusste nicht genau, warum.

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